Hanskühnenburg

Wer gut zu Fuß ist und einen tüchtigen Marsch lieb, der läßt sich von Herzberg nicht auf dem langen Umweg der Eisenbahn nach Klausthal fahren, sondern er steigt im lieblichen Lonauthale den „Acker“ hinauf, freut sich hier auf der Hanskühnenburg oder dem in ihrer Nähe neuerdings errichteten Turme der herrlichen Aussicht und nimmt dann seinen Abstieg über Kamschlacken im oberen Sösethal.

Vor mehreren hundert Jahren, als noch dichter Urwald den Acker und seine Eingänge bedeckte und Bären und Wölfe hier in Menge hausten, ritt eines Tages ein Bürger aus Herzberg, namens Hans Kühn, in jenem Thale hinauf. Da er gerade nichts zu fahren hatte, so wollte er seine Pferde auf den Acker in die Weide bringen, denn die wilden Tiere hatten, so lange er denken konnte, noch niemals Menschen und Pferde angefallen, sondern sich mit Hirschen und anderem Wild, wovon ja damals noch weniger Mangel war als heute, begnügt.

Aber gerade, als er in unmittelbarer Nähe der gewaltigen Felsgruppe war, die seitdem den Namen Hanskühnenburg trägt, stürzte sich ein Rudel hungriger Wölfe ihm entgegen und suchte die Pferde zu umzingeln. In seiner Angst sprang er vom Pferd und kletterte, seine guten Tiere sich selbst überlassend den Fels hinan. Und auf der Höhe angekommen, sah er nun mit Entsetzen dem Kampf der Pferde mit den blutgierigen Bestien zu. Vom Instinkt geleitet, hatten sich jene mit den Köpfen zusammengestellt und teilten mit ihren Hinterhufen so kräftige Schläge aus, daß mancher Räuber, der schon zum Sprunge ansetzte, wutheulend weiter zurückwich oder zucken in das Baumgestrüpp flog, wo seine Kameraden ihn im Nu zerrissen und in Fetzen hinunterwürgten. Aber die Schar der Wölfe wuchs durch neuen Zuzug immer mehr, und die Pferde ermatteten allgemach, denn ihre Schläge waren nicht mehr so kräftig und wirksam wie am Anfang und in den Pausen, die ihnen die Bestien ließen, überflog ein Zittern ihre Flanken, als ahnten sie, daß sie bald unterliegen müßten.

Wie gerne hätte Hans Kühn seinen treuen Tieren geholfen, in denen sein Reichtum bestand! Aber hilflos in weiter Einöde, mußte er für sein eigenes Leben zittern. Jetzt machten die Wölfe, wie auf Verabredung, einen allgemeinen Angriff am Boden, und die Räuber hielten gierig ihr Mal.

Werden sie sich nun entfernen, so daß Hans Kühn, der sich ganz still verhält, flüchtend ihnen entkommen kann? Wenn dieser solche Hoffnung gehegt hatte, so sah er sich bald schrecklich enttäuscht. Als wenn ihnen durch den leckeren Fraß der Hunger nur noch gewachsen wäre, so umstreifen und umstellen sie, den letzten Bissen noch im blutigen Rachen, die für sie unersteigliche Felsgruppe. Es wird Nacht, und die Belagerer weichen nicht vom Fleck. Es wird Tag, und noch immer leuchten die blutgierigen Augenpaare grünlich zu ihm hinauf. Er ruft in den Wald hinaus, bis seine Stimme versagte, aber er hörte keine andere Antwort als das Knurren seiner ungeduldigen Feinde. Es wird zum zweiten Mal Nacht, aber das Bild verändert sich nicht. Vor Hunger und Angst und Müdigkeit hält er sich kaum noch aufrecht, aber er darf nicht ruhen, nicht schlummern, nicht einen Augenblick, denn die entsetzlichen Tiere halten sich stets bereit, den herunterstürzenden aufzufangen. Er flucht in heller Verzweiflung, aber zur Antwort heulen sie ihm sein Totenlied entgegen. Er ruft zu Gott: „Herr, höre meine Stimme!“ aber der scheint sein Ohr zu verschließen.

So kommt die dritte Nacht heran, und es wird ruhig in seiner geängstigten Seele: noch einmal wendet er sich an den Herren in heißem Flehen und gibt sich ganz in dessen Willen. Will der ihn verhungern lassen, nun, so mag es geschehe! Den blutlechzenden Bestien aber will er sich nicht ausliefern.

Kaum hat er sein Gebet beendet, so rauscht es leise in den Wipfeln der Tannen, und eine große Eule läßt sich neben ihm auf dem Felsen nieder. Sich schüttelnd, bringt sie ihr Gefieder in Ordnung und wendet sich dann an ihn in verständiger, menschlicher Rede. „Du unbesonnener Mensch,“ sagt sie zu ihm mit ihrer tiefen Stimme, „Wie konntest du dich ohne Waffen in diese gefährliche Wildnis wagen! Sieh, eigentlich müßtest du zur Strafe für deinen Leichtsinn hier umkommen. Aber dein Gebet und das Flehen deines Weibes und deiner Kinder ist vor Gott gekommen, und er hat mich gesandt, die Hilfe zu bringen. Nimm diese Rute“, damit reichte sie ihm eine gewöhnliche Rute, die sie im Schnabel getragen und neben sich gelegt hatte, „und geh mit ihr mutig durch die Wölfe hin, so soll dir kein Leid geschehen.“ Damit fliegt sie fort.

Er glaubt den Worten, und steigt, die schützende Rute in der Hand, mutig vom Felsen herunter, und die Wölfe wichen scheu zur Seite und ließen ihn ungehindert ziehen.