Es ist nun schon manches Jahrhundert her, als die ersten Bergleute in den Oberharz kamen und hier nach Erzen schürften. Die ersten fanden sie in der Nähe der Ruinen des Klosters Cella, nach welchem die Stadt Zellerfeld den Namen hat. Sie suchten und forschten aber weiter und kamen dabei auch in das Innerstethal, in die Gegend, wo jetzt die kleinste der Bergstädte, Wildemann, liegt. Hier hatte der hoch angeschwollene wilde Gebirgsfluß an mehreren Stellen Gänge aufgewachsen, d.i. Gestein bloßgelegt, welches regelmäßig Erz begleitet; und sie begannen hier einen Versuchsbau.

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Merian, 1658

Dabei entdeckten sie nun auch im Schlamme der Innerste frische menschliche Fußspuren, und da sie bis jetzt geglaubt hatten, sie wären die einzigen Menschen weit und breit, so gingen sie der Fährte nach, um zu erfahren, wessen sie sich von dem Unbekannten zu versehen hatten. Bald erblickten sie denn auch in der Nähe jener Gänge zwei fremde Menschen, einen Mann und eine Frau. Beide waren auffallend groß und trugen als Bekleidung nur einen breiten Gürtel von Laub und auf dem Kopfe eine Mooskappe. Als Waffe führte der Mann, dem ein wilder Bart bis auf den Gürtel hinabreichte, eine ziemlich starke, mit den Wurzeln aus der Erde gerissene Tanne in der Rechten.

Kaum hatten die wilden Menschen die Bergleute erblickt, so flüchteten sie, ohne auf freundlichen Zuruf zu hören, in das Dickicht des Urwaldes. Doch sahen sie dieselben noch öfter in den nächsten Wochen; aber obwohl sie förmlich Jagd auf sie machten, so vermochten sie die schnellfüßigen Waldbewohner doch niemals einzuholen.

Da machten sie dem Herzog von Braunschweig, ihrem Landesherren, Anzeige von ihrer Entdeckung, und der befahl ihnen, die wilden Menschen auf jeden Fall einzufangen Sie sollten ihnen Schlingen legen, oder sie mit Bogen und Pfeil verwunden, jedoch nicht schwer verletzen, denn er wollte sie lebendig sehe.

Nach vielen mißlungenen Versuchen gelang es ihnen endlich, den scheuen Waldmenschen so nahe zu kommen, daß sie den Mann mit einem Pfeile am Fuße verwunden konnten. Aber nun setzte es noch einen harten Kampf, denn der wilde Mann schlug mit seiner Tanne gewaltig um sich, und das Weib, gelenkig wie eine Eidechse und stark wie eine Riesin, wußte Fäuste und Zähne nachdrücklich gegen ihre Verfolger anzuwenden. Zuletzt aber wurden sie von der Übermacht überwältigt und gefesselt fortgeführt. Auch ihre Höhle entdeckte man bei dieser Gelegenheit und erkannte aus den dort aufgehäuften Vorräten, daß sich die Waldmenschen nur von Beeren und rohem Wildfleische ernährten.

Man fragte nun den wilden Mann, wer er sei, woher er komme, und sonst noch allerlei; aber er gab auf keine Frage Antwort und schaute nur immer nach der Gegend, wo die entdeckten Gänge lagen. Man wollte ihn zwingen, bei der Arbeit zu helfen, aber er legte nicht Hand an. Ob er stumm war, oder sich nur so stellte, konnten sie nicht unterscheiden.

So beschlossen denn die Bergleute, ihn zum Herzoge nach Braunschweig zu schicken; mochte der dann bestimmen, was mit ihm geschehen sollte. Doch starb er ihnen unterwegs. Und gerade im Augenblick seines Todes wurde die erste Erzader aufgefunden. Deshalb waren die Bergleute der Meinung, daß der wilde Mann bis dahin die Gänge taub gemacht habe, und nannten die erste Grube nach ihm „Wilder Mann“. An die Stelle aber, wo sie ihn gefangen hatten, pflanzten sie zum Andenken eine Linde, und die steht nun heute noch vor dem Rathause der Stadt Wildemann.

Manche erzählen aber, die Linde habe der wilde Mann selbst in jenem Kampfe in die Erde gestoßen, und so meldet es auch die an ihr angebrachte Inschrift.

Jene Grube lieferte reiche und viele Silbererze, und in wenigen Jahren erwuchs eine kleine Ansiedlung der ersten Bergleute zur Stadt.